Angesichts der ungeheuren Ungleichheit in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ist sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der medialen und politischen Debatte zunehmend von einer „Rückkehr der Klassengesellschaft“ die Rede. In den Sozialwissenschaften steht dieser Begriff vor allem für die verstärkte Auseinandersetzung mit der sozialen Spaltung und ihren Ursachen, die aus verschiedenen theoretischen und empirischen Perspektiven beleuchtet werden.[2] Auf medialer und politischer Ebene ist darüber hinaus aber auch eine Renaissance des traditionellen marxistischen Klassenbegriffes zu beobachten.[3] Hatte der Investor und Multimilliardär Warren Buffet im Jahr 2006 noch zynisch verkündet: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen“,[4] so versuchten in den letzten Jahren linke Politiker wie Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn die „Arbeiterklasse“ wieder gegen „das Kapital“ zu mobilisieren. Auf den ersten Blick mag diesem Rückbezug auf den marxistischen Klassenbegriff und das Klassenkampfparadigma eine gewisse Plausibilität zukommen, doch bei näherem Hinsehen verfliegt dieser Schein. Denn die sozialen Spaltungslinien von heute haben nur noch wenig mit dem Klassenwiderspruch gemein, wie er von Marx und Engels etwa im Manifest der Kommunistischen Partei postuliert wurde und lassen sich daher auch nicht mehr adäquat mit den Kategorien der marxistischen Klassentheorie begreifen. Doch die war ohnehin immer nur die eine Seite der Marx'schen Theorie. Und wenn sie bis heute deren allgemeine Wahrnehmung prägt, dann liegt das vor allem daran, dass sie es war, die im 19. und 20. Jahrhundert politisch wirkmächtig wurde und so eine gewisse Berühmtheit erlangte. Es gibt aber noch eine andere Seite der Theorie, die Marx vor allem in seinem Hauptwerk Das Kapital und den dazugehörigen Vorarbeiten (Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Zur Kritik der Politischen Ökonomie etc.) entwickelt hat. Der Schwerpunkt liegt hier nicht auf der Kritik des Kapitalismus als Klassengesellschaft, sondern als eines gesellschaftlichen Systems, das auf der Produktion von Waren beruht, die sich gegenüber den Menschen verselbstständigen und ihnen in verdinglichter Gestalt als „zweite Natur“ gegenübertreten. Es ist diese Seite der Marx’schen Theorie, die bis heute – oder vielmehr gerade heute – hochaktuell ist, weil sie nicht nur die fortschreitende Krise der kapitalistischen Gesellschaft, sondern auch die mit ihr verbundenen sozialen, politischen und ökonomischen Spaltungen plausibel erklären kann. Die andere Seite hingegen, in deren Mittelpunkt das Klassenkampfparadigma steht, ist schon lange obsolet geworden und wenn sie heute eine Renaissance erlebt, ist das mehr auf ein nostalgisches Bedürfnis der Linken als auf ihr analytisches Potenzial zurückzuführen.